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Wachsfigurensammlungen und die Renaissance (ASG)

Photo: Thomas Roth: Wax Figure, from https://www.flickr.com/photos/phantomfies/4657041671 (28 June 2016), cc


Ein Inventar von 1630 bezeugt, dass im Chiostrino dei Voti der Kirche Santissima Annunziata in Florenz neben 22.000 Votivgaben aus Papiermachè und 3600 kleinen Bildnissen von Wundern und anderen Gaben auch sechhundert Vollkörper-Votivfiguren ausgestellt waren, sogenannte “boti”, skulpierte Porträts zur Ehre Gottes. Viele dieser Figuren waren aus Wachs, lebensgross und bekleidet mit zeitgenössischen Gewändern aus Tuch. Das Wachs ihrer Gesichter war gefärbt, so dass den Figuren oft rosige Wangen und Pupillen in den Augen eigen war. Auch trugen sie echtes Haar. Einige der Wachsfiguren schmolzen 1630 zu Klumpen, und ihr inneres Holz-“skelett” verbrannte, als ein Feuer in SS Annunziata ausbrach. Viele Teile der der Sammlung wurden daraufhin abtransportiert und vernachlässigt. (1) Eine Reisebeschreibung des Gilles Caillotin von 1724 legt nahe, dass der Chiostrino  weiterhin mit Votivbildnissen und-figuren angefüllt wurde. (2) Heute sind keine der Wachs-"boti" mehr vorhanden.

Auch wenn die Objekte lebendigen Menschen täuschend ähnlich sahen, so war die Sammlung doch ganz verschieden von heute bekannten Wachsfigurensammlungen wie den Museen der Schweizerin Madame Tussaud in Paris und London, die berühmte Personen der Zeitgeschichte verewigen ohne von diesen selbst in Auftrag gegeben worden zu sein, oder anatomischen Sammlungen, die medizinschen Vorgaben zumeist pathologischer Natur folgten. Volksreligiösen Bräuchen seit dem 14. Jahrhundert folgend liessen einzelne Spender an vielen Orten Europas Wachsfiguren als Votivgaben anfertigen. Sie flehten damit um Gottes Hilfe oder dankten für gegebene Wohltaten und Wunder.  Nach der Legende malte Fra Bartolomeo 1252, kurz nach Gründung der Kirche, ein Fresco der Verkündigung, das sukzessive der Kirche den Namen SS. Annunziata gab. (3) Das Bildnis galt als wundertätig, und lockte Pilger von nah und fern an. Zusammengenommen hatte die Sammlung der “boti” den Effekt einer Gemeinde, die im Moment des ewigen Gespräches mit Gott eingefangen war. Im flackernden Kerzenschein schienen die Figuren sogar in Bewegung.

Die berühmtesten Spender waren römische und Florentiner Adelsgeschlechter wie die Medici (4), aber auch unbekannte Stadtbürger waren vertreten. Wer es sich leisten konnte, beauftragte Künstler, die Wachsfiguren herzustellen. Im 16. Jahrhundert berichtet der vielgelesene Schreiber von Künstlerviten in Italien Giorgio Vasari, dass es zur regulären Ausbildung des Skulpteurs gehörte, neben Terracotta-, Holz-, und Marmor- Modellen auch Wachsmodelle herzustellen (Buch 1), und preist Formbarkeit und Färbemöglichkeiten, die die Arbeit in Wachs den Künstlern offeriert. (5) Unter den berühmten Bildhauern, die Wachsmodelle für SS Annunziata anfertigten, war nach Aussagen Vasaris auch Andrea del Verrocchio, der für Lorenzo de’ Medici den Autrag ausführte, ein lebensgrosses Wachmodell Lorenzo’s zur Ehre Gottes und zum Andenken an Lorenzo’s Rettung nach einem Attentat herzustellen.  Um die Wachsfigur zusammen zu halten, modellierte Verrocchio sie über ein Holz-“Skelett.” (6) Die Wachsfiguren porträtierten die Hilfesuchenden und Dankenden.

Der Chiostrino war ein öffentlicher Raum in der Kirche und jeder konnte sich die Sammlung anschauen. Mit der Ausstellung der “boti” gab er Zeugnis einer lebendigen historischen Gemeinde, die sich auf Gott verlässt, ihn anbetet, und für seine Wunder dankt. Material und Herstellungsweise der Figuren lässt sie lebendig erscheinen und heisst den Betrachter in der Gemeinde der Gläubigen willkommen. (7)



(1) Siehe Roberta Panzanelli, Compelling Presence. Wax Effigies in Renaissance Florence, in: Panzanelli, Roberta, and Julius von Schlosser, Ephemeral Bodies: Wax Sculpture and the Human Figure. Los Angeles: Getty, 2008, 13-40, S. 18. Dort auch weitere Literatur. Neuere bibliographische Angaben in: Jacobs, Fredrika H. Votive Panels and Popular Piety in Early Modern Italy. Cambridge University Press, 2013.

(2)  Julia, Dominique, ed. “Transcription Du Ms 2487 de La Bibliothèque Municipale de Reims.” Gilles Caillotin, Pèlerin : Le Retour de Rome D’un Sergier Rémois, 1724. Rome: Publications de l’École française de Rome, 2013. 37–267. OpenEdition Books. Web. 21 June 2016. Collection de l’École Française de Rome.

(3) Siehe Tonini, Pellegrino. Il Santuario della Santissima Annuziata di Firenze. Guida Storico-Illustrativa compilata da un Religioso dei Servi di Maria.  Firenze: Ricci, 1876.

(4) Panzanelli, Compelling Presence, 13.

(5) Vasari, Giorgio. Le vite de piv eccellenti architetti, pittori, et scvltori italiani, da Cimabve insino a’ tempi nostri: 3 parts in 2 vols. Firenze: Stampato in Fiorenza appresso Lorenzo Torrentino, 1550, Bd. 1, S. 55–59.

(6) Vasari, Giorgio. Le vite de’ più eccellenti pittori, scultori ed architettori. 9 vols. Firenze: Sansoni, 1878, Bd. 3, S. 374. Panzanelli, Compelling Presence, 13-40, baut ihre Analyse der SS Annunziata Wachsfigurensammlung auf Vasaris Beschreibung auf. 

(7) Weitere historische Zeugnisse und Beschreibungen des Chiostrino dei Voti in SS Annunziata, Florenz zwischen 1590 und 1630 betonen den pädagogischen Gehalt vor allem der narrativen—pictoralen— Wunderdarstellungen:  Matthews‐Grieco, Sara F. “Media, Memory and the Miracoli Della SS. Annunziata 1.” Word & Image 25.3 (2009): 272–292.

Michael Dewberry hat auf der Website “Ex Voto: Agents of Faith / Votive Interors Project / Bard Graduate Center 2016 http://votiveinteriors.commons.bgc.bard.edu/ ," betreten 23 Juni 2016; Bildnisse von Votiv-Innenräumen zusammengestellt.

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The Educational Collection at the South Kensington Museum, London, 1857. (From 1899, The South Kensington Museum changed its name into Victorian & Albert Museum.)

http://www.flickr.com/photos/sciencemuseum/3321604125/

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Frontispiz zu: Museographia Oder Anleitung Zum rechten Begriff und nützlicher Anlegung der Museorum Oder Raritäten-Kammern  Leipzig / Breßlau: Hubert 1727 — Digitalisat der Niedersächsischen Staats- und Universitätsbibliothek

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Thomas Platter (1574–1628), Beschreibung der Reisen durch Frankreich, Spanien, England und die Niederlande, 1595–1600, hg. Rut Keiser, Basel: Schwabe 1968, II.Teil, S. 796–798, mit zahlreichen Anmerkungen.

Platter berichtet in seinem Tagebuch am 21. September 1599 von einem Besuch im cabinet von Herrn Cop (womöglich Sir Walter Cope, ca 1553 – 1614) in London.

Es wohnet derselbig Herr Cop in der Snecgras in einem schönen haus; der führet uns in ein kammer, die an allen orten mit seltzamen, frömbden sachen wol außgespiket wahre, unndt gedenkcet mir noch under anderen sachen, die ich da da gesehen, sonderlich:
1. Einer segen [Säge] auß Affrica von zeenen.
2. Viel waffen, pfeil unndt anders von fischbeinen.
3. Schöne indianische federposchen, zierden unnd kleider aus China
4. Ein schön barret von gensfüeßen auß dem königreich China.
5. Ein selztam kleidt auß Japha.
6, Ein filtzmantel auß Arabia.
10. Ein seitenspeil mit einer eintzigen seiten.
11. Ein ander seitenspiel auß Arabia.
12. Ein horn unndt schweiff eines rhinocerontis, ist ein groß thier wie ein helfant.
13. Ein luftmacherlin [ein kleiner Fächer] von einem blatt.
14. Seltzmame scherter von holtz unndt steinen.
15. Eines meerochens geflochtene horn.
16. Ein rundt horn eines englichen weibs, daß ihren an der stirnen gewagsen.
17. Ein balsamiert (mumia) kindt.
18. Lidere wafen [lederne Schilde]
19. König heinrich deß achten narren mitt fleschen.
20. Eines einhorns schweiff.

21. Überschriben papier aus rinden.
22. Indianisch steinen schermeßer.
23. Ein straalstein in einem mastbaum außgegraben, nachdem daß wetter auf dem meer darein geschlagen hatt; sicht wie der Judaicus stein.
24. Ein stein für das miltze wehe.
25. Kunstreiches kestlin auß China.
26. Irdine kanten [Kannen] auß China.
27. Fliegender rhinoceros
28. Harechter [haariger] wurm Scolopendra. [eine Art der Tausendfüßer]
29. Fliegen, so in Virginia nachts scheinen, an statt der liechteren, weil oft über ein monat kein tag ist.
30. Ein beinen klein händlin, damit man sich in India kratzet.
31. Der königen auß Engellandt sigel.
32. Guldin sigel deß türkischen keysers.
33. Viel geschirr aus China.
34. Falcken kopf von schönen federen.
35. Viel heiligthumben auß einem spangischen schiff, daß er hatt helfen  eroberen.
36. Marien bildt auß indianischen federen.
37. Eine türkische kanten undt platten.
38. Ein indische kettin [Kette] von affenzeenen.
39. Eines meer eyßvogels nest. der die stille deß meeres bedeütet [vgl. das Emblem von den Alkyonischen Tagen]
40. Ein schnabel eines pelicans, deß egyptischen vogels, der seine jungen tödtet unndt darnach ihme selber  sein brust aufbeyßet unndt die jungen mit seinem blut begeüsset, biß sie wiederumb lebendig werden. [vgl. Physiologus]
41. Ein spiegel, der alle ding vielfach zescheinen machtet.
42. Kronen von (ungulis) huffen.
43. Abgötter der heiden.
44. Sättel auß viel fremden länderen, stunden oben herum auf schäften.
45. Zwo schöne, gefärbte indianische schaffhüt, glantzten wie seiden.
46. Remora. Ein fischlin, der die schiff aufhaltet oder hindert, daß sie nitt mögen fortfahren, wann er sie anrüeret, wie auch gleichfahls ein anderer, torpedo genennet, der den schifleüten die händt verstunet undt entschläfet, so er ihnen nur an daß ruder kompt. [Remora: seit Alciato in der Emblematik gebräuchlich]
47. Ein meer mauß, mus marinus.
48. Vielerley beinerne instrument.
49. Pfeiffen auß rohren, wie der Pan darein blaset.
50. Ein indianisch lang, schmahl, höltzin meer fischer schifflin mit den ruderen undt ihren schuen, hunge [hieng] an der büne in diser kammer.
Sonst hatte er auch viel alte heidnische müntzen, schöne gemähel, allerhandt corallen unndt meergewegs in großer menge.

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Michael Rupertus Besler, Gazophylacium Rerum Naturalium. E Regno Vegetabili, Animali Et Minerali Depromptarum; Nunquam Hactenus In Lucem Editarum, Fidelis Cum Figuris Aeneis Ad Vivum Incisis Repraesentatio, 1642
http://diglib.hab.de/drucke/6-2-3-phys-2f/start.htm

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Ordnung muss sein!

Elenchus tabularum, pinacothecarum, atque nonnullorum cimeliorum, in gazophylacio Levini Vincent [1658-1727], Haarlem 1719.

https://www.biodiversitylibrary.org/item/136742#page/40/mode/1up


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